Michael Landau wurde als Sohn gemischtkonfessioneller Eltern geboren und besuchte von 1970 bis 1978 ein Naturwissenschaftliches Realgymnasium in Wien. Während seiner Schulzeit war er Gewinner der Österreichischen Chemie-Olympiade. Danach studierte und dissertierte er an der Universität Wien im Fach Biochemie und promovierte an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom in katholischer Theologie. 1992 wurde Michael Landau zum Priester geweiht. Seit 1995 ist er Direktor der Caritas der Erzdiözese Wien, seit 2013 Präsident der Caritas Österreich und seit 2020 Präsident der Caritas Europa, einer der sieben Regionen des weltweiten Dachverbands der Caritas Internationalis.

„Hinter einer Dorfgemeinschaft steht keine großartige Theorie, sondern ein grundlegendes menschliches Bedürfnis: Den Alltag gemeinsam leben, den Lebensweg gemeinsam gehen und nach Möglichkeit niemanden zurücklassen.“
— Michael Landau
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Michael Landauund Stephan Pernkopf an der Werkbank

Pernkopf: Corona hat einiges auf den Kopf gestellt und jetzt kommt auch der Ukraine Krieg noch dazu. Das hat bei mir persönlich viele Fragen aufgeworfen. Du bist in Wien, ich bin in einem Dorf aufgewachsen. Für mich ist der Zusammenhalt im Dorf ein wichtiges Gut. Ich habe ein Zitat von Dir gelesen, das zur „Risikogemeinschaft Dorf “ passt. Du sagst: „Wir tragen als Menschen natürlich Verantwortung für uns selbst. Aber wir haben auch Verantwortung füreinander, weil es uns nur miteinander gut gehen kann. Es geht darum, Lebensrisiken, die den Einzelnen überfordern, gemeinsam zu tragen.“ Ist das Dorf ein Ort, wo man das leben kann?

Landau: Zunächst bin ich davon überzeugt, dass wir einander als Menschen brauchen. Allein schon von unserem Wesen her. Alle Dinge, die uns wesentlich ausmachen, lernen wir von anderen. Schon die Sprache bringt sich keine und keiner selbst bei. Wir lernen das Sprechen von anderen Menschen, mit denen wir aufwachsen. Das heißt: Ohne ein Du wird keiner zum Ich. Wir brauchen einander wesentlich. Das zeigt sich nicht zuletzt während der Pandemie und jetzt mit dem Phänomen zunehmender Einsamkeit. Es gab diese stille Not der Einsamkeit schon vorher, aber durch die Pandemie ist diese Not vielfach größer, aber auch ein Stück weit sichtbarer geworden. Ich denke, das ist eine der Nöte, denen wir uns auch als

Gesellschaft viel deutlicher stellen müssen, weil sie viele Menschen, jung wie alt, betrifft. Wir versuchen als Caritas Österreich praktische Antworten auf diese Not zu geben. Beispielsweise mit dem „Plauderbankerl“ in der Diözese St. Pölten, mit dem Caritas-Plaudernetz als österreichweite Hotline gegen die Einsamkeit, oder mit den Klimaoasen, wo Pfarren ihre Gärten öffnen und Menschen zusammenkommen, ausruhen, aber auch ein Stück Gemeinschaft erfahren können. Für mich hat das ganz zentral mit der Aufmerksamkeit füreinander zu tun, der Achtsamkeit, wie es der Nachbarin, dem Nachbarn geht. Aber wir können auch von anderen Ländern lernen, etwa, wenn es um so etwas wie einen Pakt gegen die Einsamkeit geht.

Ich glaube, das ist es auch, was Österreich groß gemacht hat: Die Bereitschaft zusammenzustehen, anzupacken und auf die Schwächsten nicht zu vergessen. Und ich bin überzeugt: Genau diese Haltungen sind auch im Blick nach vorne wichtig. Die Bereitschaft zum Zusammenhalt und eine Grundmelodie der Hoffnung und der Zuversicht. Auch und gerade in Zeiten wie jetzt.

Und auch da spielt mein Gegenüber, das Du, immer auch eine wichtige Rolle. Im Gespräch mit anderen kann ich auch so etwas wie Ermutigung erfahren. Ich mache es an einem konkreten Beispiel fest: Ich bin selbst seit vielen Jahren Seelsorger in einem unserer Seniorenhäuser. Unsere Damen und Herren dort haben das einmal im Blick auf die Corona-Pandemie so ausgedrückt: „Wir haben schon so viel erlebt und überlebt. Das werden wir auch noch bewältigen.“ Das heißt es wird der Tag kommen, an dem wir auf die heutige Zeit zurückblicken werden – auf die Pandemie oder etwa auch den Krieg in der Ukraine. Ich möchte dafür werben, dass wir an diesem Tag sagen können, dass wir unser Bestes gegeben haben – gemeinsam.

Diese Verwiesenheit aufeinander ist für den Menschen wesentlich. Aus höherer Flughöhe betrachtet, ist aber nicht selbstverständlich, dass dieser Zusammenhalt auch gelebt wird. Nichts ist selbstverständlich – weder Frieden, noch Rechtsstaatlichkeit, noch Demokratie. Das zeigt sich gerade jetzt dramatisch. Es liegt an jeder und jedem Einzelnen von uns, wie wir zusammenleben. Die Unmittelbarkeit von Dorfgemeinschaft hat hier ein Stück weit einen Startvorteil. Vor ein paar Jahren gab es die soziale Dorferneuerung, eine Initiative hier in Niederösterreich. Nachdem die Dörfer wunderschön geworden sind, ging es um die Frage: Was können wir tun, damit das Zusammenleben auch hinter den Fassaden gut gelingt? Das heißt, das gute Miteinander ist kein Selbstläufer. Ich bin davon überzeugt, dass sich das Ringen um Gemeinschaft lohnt. Das können wir im Ländlichen Raum, vor allem mit den vielen Vereinen und fest verankerten sozialen Infrastrukturen, ganz hautnah erleben und selbst mitgestalten.

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Pernkopf: Da darf ich zum Thema Familie nachfragen. Familie hat auch in der Pflege und der Seelsorge eine tragende Rolle. Wie wichtig ist Familie heute noch? Schieben wir manche Verantwortungsbereiche nicht schrittweise auf den Staat und Pflege-Organisationen ab?

Landau: Familie ist meines Erachtens etwas ganz Entscheidendes im Leben.

Für mich ist mein Bruder ein ganz wichtiger Mensch. Wir haben als Kinder viel gestritten, aber heute bin ich unendlich glücklich und dankbar dafür, dass es ihn gibt. Familie ist ein Ort, wo man zumindest im Idealfall etwas von der Bedingungslosigkeit der Liebe spüren kann. Kinder sind um ihren Selbstwillen liebenswürdig, nicht, weil sie etwas Besonderes geleistet haben oder getan haben, sondern weil sie einfach da sind. Als Christ bin ich überzeugt davon, dass das auch die Weise ist, wie uns Gott begegnet – mit einer bedingungslosen, mütterlichen Liebe. Seine Zuneigung geht jeder unserer Leistungen voraus. Gleichzeitig sind Familien auch ein erster Ort der Verantwortung. Familie kann dabei herausfordernd und schwierig sein. Auch das weiß ich. Aber mein Bruder und ich haben in der Familie wesentliche Dinge fürs Leben gelernt. Wir haben gelernt und versucht, möglichst nicht im Streit schlafen zu gehen. Die Sonne nicht über dem Zorn untergehen zu lassen – das halte ich persönlich für etwas sehr Wichtiges. Zu versuchen, möglichst alle Streitereien zu beseitigen. Als Kinder haben wir gelernt, dass wir so leben sollen, dass man sich auch am Abend in den Spiegel schauen kann und sich dabei nicht genieren muss. Oder auch, dass es sich gehört, sich um die zu kümmern, denen es nicht so gut geht. Kinder lernen hier Wesentliches von ihren Eltern und Großeltern.

Du hast den demographischen Wandel und das Thema Pflege angesprochen. Ja, viel wurde und wird in der Familie geleistet. Die Angehörigen sind der größte Pflegedienst Österreichs. Gleichzeitig verändern sich die familiären Strukturen, und der demographische Wandel ist insgesamt eine der ganz großen Herausforderungen für Österreich und für Europa. Die generationenübergreifenden Begegnungen werden weniger, dabei sind die sehr wichtig. Das ist einer der Gründe, warum wir Senioren- und Pflegehäuser mit Kindergärten integrieren. Weil es den Kindern guttut, mit alten Menschen zusammen zu sein und weil es den Alten guttut, wenn sie Kinder um sich haben. Die Angehörigen wirksam zu entlasten und sie zu begleiten, wird eine große Aufgabe sein. Ein Beispiel ist der Austausch in Selbsthilfegruppen, wie den „Demenzcafés“. Dementielle Erkrankungen werden zunehmend eine Herausforderung. Kaum eine Erkrankung ist für die Angehörigen so belastend, wie eine demenzielle Erkrankung. Immer wieder geht es darum, die Angehörigen zu ermutigen, Entlastungsangebote in Anspruch zu nehmen. Und da ist es wichtig, dass die Angebote so nah als möglich an den Menschen sind. In Krumbach in der Buckligen Welt haben wir zum Beispiel eine kleine Einrichtung, die gut im Ort integriert ist und wo die Menschen im Leben integriert sind. Und das ist auch ein Ziel: Das Leben in die Häuser hinein zu holen und auf diese Weise deutlich zu machen, dass auch dieses letzte Wegstück ein wichtiges Stück Leben ist. Das heißt, wenn ich an die Praxis täglicher Caritasarbeit denke, dann weiß ich, wie wichtig die Familien sind, die mobile und die stationäre Pflege, da hat sich sehr viel sehr positiv weiterentwickelt, aber auch die Palliativ- und Hospizversorgung.

Wir sind in diesem Bereich als Caritas eine Pionierorganisation, in guter Zusammenarbeit auch mit dem Land Niederösterreich, weil wir überzeugt sind, dass zu einer Kultur des Lebens auch eine Kultur des Sterbens gehört und dass im Sinne von Kardinal Franz König Menschen an der Hand eines anderen Menschen sterben sollen und nicht durch die Hand eines anderen Menschen.

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Pernkopf: Ich habe den Glauben von meinen Eltern mitgenommen. Die Kirche kann ich aus beruflicher, aber auch aus menschlicher Sicht beurteilen. Aus beruflicher Sicht wünsche ich mir eine starke Kirche, weil das heißt für mich auch ein starkes Dorf. Eine schwache Kirche heißt ein sterbendes Dorf. Die Kirche stellt sehr stark die Liturgie in den Mittelpunkt und der Priestermangel wird durch Pfarrzusammenlegungen ausgeglichen. Für mich sind Pfarren Kristallisationspunkt – Jungschar, Ministrieren, Brauchtum, Fasten. Warum wertet man nicht beispielsweise die Diakone auf? Du nennst die Pfarren „Nahversorger für die Seele“. Könnte man mit der Aufwertung der Diakone dem Priestermangel entgegenwirken und das Pfarrleben lebendiger machen?

Landau: Das sind die Themen, die wir besprechen müssen. Ich sehe in der aktuellen Synode die Möglichkeit, dass diese Fragen zur Sprache kommen. „Synode“ heißt miteinander unterwegs sein, aufeinander hören und achten, gemeinsam gehen, aufmerksam für die Zeichen der Zeit sein. Für mich ist Kirche vor allem eine Form der Weggemeinschaft, das Zweite Vatikanische Konzil hat die Vielfalt der Charismen, die unterschiedlichen Rollen wie auch das gemeinsame Priestertum aller Getauften betont. Gemeinde muss erreichbar, lokal und konkret sein. Was für den Priester wichtig ist, ist sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen und erfahren zu können. Viele Mitbrüder vereinsamen auch, weil sie selbst nicht in einer Gemeinde verwurzelt sind. Das Bild vom Hirten in der Geburtsregion der Kirche meint einen Hirten, der inmitten seiner Herde geht. Der Papst möchte, dass ein Hirte so intensiv in Mitten seiner Herde geht, dass er den „Geruch“ seiner Herde angenommen hat. Und das ist mit den Formen, in denen wir derzeit Priestertum und Pfarrgemeinde leben, kaum herstellbar. Vielleicht kommen wir stärker zu jenen Formen, wie sie auch in anderen Teilen der Welt gelebt werden, wo eine wesentliche Arbeit der Gemeindebildung von Katecheten geleistet wird. Der Grundauftrag der Kirche ist die Überbringung der Frohen Botschaft. Liturgie, Verkündigung, das Tun der Liebe, Leben von Gemeinschaft, das gehört zusammen. Sodass Menschen auch in den Schwierigkeiten ihres Lebens spüren und erfahren können, dass Gott ein Gott ist, der uns in die Weite führt, der will, dass unser Leben gelingt, der uns nicht klein und geknickt möchte, sondern aufrecht und gerade. Und diese freudige, befreiende Botschaft erfahrbar werden zu lassen, darum geht es im Tun der Kirche. Das ist ein Dienst, der ein gemeindlicher Dienst insgesamt ist. Er wird von einer Gemeinde in ihrer Vielfalt geleistet und nicht von einem, der aufgrund der Weihe zum Animateur gemacht wird.

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