Markus Hengstschläger leitet das Institut für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien und schreibt Bestsellerbücher. Außerdem ist er stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission und wissenschaftlicher Leiter des Think Tanks Academia Superior. Er unterrichtet Studierende und ist in den Bereichen genetische Diagnostik, Grundlagenforschung und Innovationsberatung tätig. Hengstschläger ist vielgefragter Redner und Moderator der Medizin- und Wissenschaftssendung „Radiodoktor“ im Radio Ö1 des ORF. Eines seiner berühmtesten Bücher veröffentlichte er unter dem Titel „Die Lösungsbegabung“.
„Die Zukunft wird Herausforderungen bringen, die wir so noch nicht gehabt haben. Das war schon immer so. Für diese Herausforderungen brauchen wir neue Lösungen. Wir sehen ja auch ganz aktuell: Zukunft hat einen vorhersehbaren und einen unvorhersehbaren Anteil und wir müssen in der Lage sein, neue Lösungen zu finden.“
Pernkopf: Die Politik ist das Bohren von harten Brettern. Du bist in der Grundlagenforschung tätig. Ist es dort das Bohren von Beton?
Hengstschläger: Die Bedingungen für die Grundlagenforschung in Österreich sind grundsätzlich recht gut. Vielleicht gibt es zu oft die Erwartung, dass Grundlagenforschung laufend Ergebnisse liefern sollte, die dann auch die Entwicklung von Anwendungen ermöglichen. Das ist aber nicht die Aufgabe von Grundlagenwissenschaft – sie dient dem Erkenntnisgewinn. Natürlich hat man stets auch den Wunsch, dem Wohle der Patientinnen und Patienten dienen zu können. Und es gibt noch die angewandte Forschung. Das eine ergibt das andere. Wobei die Grenzen fließend sind. Ich sehe das auch nicht als ein „Entweder-Oder“, sondern vielmehr als ein „Sowohl- als-auch.“
Pernkopf: Bei einer Veranstaltung der Academia Superior hast Du vor Kurzem mit Richard David Precht diskutiert. Dabei war die künstliche Intelligenz auch Thema. Wo ist der Nutzen der Künstlichen Intelligenz, wo sind die Gefahren und wo die Grenzen?
Hengstschläger: Die Frage, die sich zunächst stellt ist: Warum beschäftigt sich mein Fach, also die medizinische Genetik, mit künstlicher Intelligenz? Das erste Mal wurde das gesamte Erbgut eines Menschen durchanalysiert, sequenziert, als Bill Clinton amerikanischer Präsident war. Die Analyse hat etwa 13 Jahre gedauert und etwa 3 Milliarden gekostet. Wenn Du heute bei uns in Wien am Institut vorbeikommst und nach einer Beratung eine Speichel- oder Blutprobe abgibst, können wir innerhalb von 1–2 Tagen das Genom analysieren. Bei den Analysen aller Bausteine der DNA entstehen enorm viele Daten – Big data, die wir anschauen und überprüfen. Der Mensch hat über 20.000 Gene. Viele Krankheiten werden von vielen verschiedenen Genen beeinflusst. Ein Gen hat oft auch mehrere Funktionen. Und schließlich spielen auch die Umwelteinflüsse bei der Entstehung von Krankheiten eine große Rolle. Zur Interpretation all dieser Faktoren wird die Unterstützung durch künstliche Intelligenz in Zukunft von großer Bedeutung sein. Bis es aber so weit ist, dauert es noch und braucht es noch viel mehr Forschungsarbeit. In Zukunft werden Unmengen von Genom-Daten in Clouds über künstliche Intelligenz interpretiert und weltweit verglichen werden können. Das bietet enorme Chancen diese tausenden Gene des Menschen, ihre Wirkungen, Wechselwirkungen untereinander und mit Umwelteinflüssen besser zu verstehen. Das wird möglich durch die Konvergenz zweier Leitfächer – der Genetik und der künstlichen Intelligenz.
Pernkopf: Wo siehst du die Gefahr und wo den Nutzen dabei?
Hengstschläger: In vielen Zusammenhängen, unter anderem auch in der Bioethikkommission, beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit den Folgenabschätzungen und den ethischen Fragestellungen betreffend, Genomanalysen, Gentherapien, Stammzellforschung, künstlicher Befruchtung u.v.m. Für die digitale Transformation bedarf es einer digitalen Ethik.
Ich vertrete prinzipiell die Position: Eine Technologie ist per se ethisch weder gut noch schlecht, sie ist neutral. Die wichtige Frage ist: Was machen wir mit dieser Technologie? Im Zusammenhang mit dem digitalen Wandel, und im speziellen betreffend künstliche Intelligenz, müssen wir uns genauso überlegen: Was wollen wir und was wollen wir nicht? Nicht alles was machbar ist, muss oder soll auch gemacht werden. Wir wollen natürlich die großen Chancen zum Wohle der Patientinnen und Patienten nutzen, die gerade in der Medizin, etwa bei Genomanalysen oder in der Tumordiagnostik, richtungsweisend sein werden. Im Bereich der Präzisionsmedizin, die das Ziel hat, hoch individualisierte, personalisierte Prophylaxen und Therapien zu entwickeln, werden Genomanalysen und die künstliche Intelligenz von größter Bedeutung sein. Und natürlich müssen gleichzeitig etwaige Nachteile mitbedacht werden. „Ethics by design“ beschreibt unter anderem, dass man von vornherein danach fragt: Wie gut ist die Qualität der Daten, um z.B. Verzerrungsmomente möglichst auszuschließen? Wem gehören die Daten? Wie stelle ich Datenschutz und Privatsphäre sicher? Einerseits werden starke private Monopole, etwa Google, kritisch gesehen, weil sie Zugang zu solchen Mengen von Daten haben und den Markt beherrschen. Andererseits werden über Social-Scoring-Systeme in China Menschen digital überwacht und ihnen Punkte für ihr Verhalten gegeben, um sie zu kontrollieren. Europa sollte eine richtungsweisende Position einnehmen und sagen: Wir nutzen den Fortschritt durch neue Technologien am besten, indem wir eventuelle Nachteile von vornherein versuchen zu vermeiden. Dafür braucht es eine laufende ethische Diskussion.
Pernkopf: Autonomes Fahren – wird es das geben?
Hengstschläger: Ohne Zweifel – ja. Die Menschen stellen zu Recht oft Fragen wie: Was passiert, wenn das Auto einen Fehler macht und wer haftet dann dafür? Das sind zwar wichtige Fragen, aber wir dürfen nicht so tun, als würde der Mensch selbst keine Fehler machen. Der digitale Wandel inklusive künstlicher Intelligenz wird in vielen Bereichen eine große Veränderung auslösen. Es wird in unseren Breiten ganz sicher so kommen, dass Maschinen viele Aufgaben übernehmen und besser erledigen werden als der Mensch, weil sie es auch besser können. Trotzdem kommen entsprechende Vorteile erst so richtig zur Entfaltung, wenn die Maschine mit der Innovationskraft, der Kreativität, dem Kontextverständnis und der Empathie des Menschen im Team arbeitet. Dadurch, dass Maschinen uns vieles abnehmen, wird der Mensch vielleicht sogar mehr Zeit und Muße haben seine Kreativität und Lösungsbegabung zu fördern und einzusetzen.
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Pernkopf: Als Vater von drei Kindern frage ich mich: Was muss die Schule von morgen können? Für mich war meine Volksschullehrerin sehr prägend. Sie hat nicht Unterricht nach Plan gemacht, sondern jedem in seinem Talent gefördert.
Hengstschläger: Wir brauchen die Dualität von zwei Komponenten. Das eine nenne ich „gerichtetes Wissen“. Das wäre beispielsweise E=mc² oder Penicillin hilft gegen Bakterien. Wenn ich vor einer bekannten Herausforderung stehe, für die es schon eine Lösung gibt, kann und soll ich das vorhandene Wissen anwenden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schaffen Wissen, auf dem die nächste Generation aufbauen kann. Und so geht der Fortschritt voran. Wir wollen das Rad nicht immer wieder neu erfinden müssen. Zusätzlich muss jede Generation aber auch Lösungen finden können für Herausforderungen, für die es eben noch keine Lösungen gibt. Dazu muss die Lösungsbegabung des Menschen gefördert werden. Dafür braucht es natürlich gerichtetes, bestehendes Wissen. Aber zusätzlich unbedingt auch das, was ich ungerichtete Kompetenzen nenne.
Dazu gehören Kreativität, kritischen Denken, Recherchieren, Teamfähigkeit, soziale Kompetenzen, Fleiß, Resilienz, ethisches Verständnis u.v.m. Beides muss Schule fördern. Das österreichische Bildungssystem legt immer noch zu viel Augenmerk auf das Erste.
Nehmen wir an ein Kind sitzt auf einem Ast hoch auf einem Baum und ist verzweifelt, weil es meint nicht mehr herunterzukommen. Wir nehmen viel zu oft dem Kind den Lösungsfindungsprozess ab und rufen ihm zu „Rühr Dich nicht!“. Sofort werden die Eltern sich daran machen, verschiedene Lösungen umzusetzen. Natürlich werden wir helfen – wir wollen ja nicht, dass sich jemand verletzt. Aber wir müssen es anders machen. Wir müssen das Kind fragen, welche Lösungen ihm einfallen. Dann sollen die Eltern diese Vorschläge ernst nehmen und gegebenenfalls auch ausprobieren. Nur so kann das Kind seine Lösungsbegabung üben und perfektionieren. Wenn es nicht klappt, lernt das Kind auch gleich aus Fehlern zu lernen – Stichwort Fehlerkultur. Es ist nur ein Beispiel dafür, dass wir der nächsten Generation die Zeit und das Handwerkzeug geben müssen, selbst Lösungen entwickeln zu können. Das fördert die Persönlichkeitsentfaltung, das Selbstbewusstsein und die Innovationskraft. Und das ist unverzichtbar, weil wir nicht wissen für welche Herausforderungen die nächsten Generationen noch Lösungen finden müssen.
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Das gesamte Gespräch findest Du in unserem Buch: