Warum Städte und Stadtstaaten nicht einfach „große Dörfer“ waren und das auch heute nicht sind

Quelle: Prof. Dr. Werner Bätzing

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Zugegebenermaßen, es stimmt das Dörfer sich im Laufe der Jahre in ihrer Bevölkerungszahl und in ihrer Effizienz gesteigert haben. Das hat ursprünglich damit zu tun, dass  durch die landwirtschaftliche Ertragssteigerung zusätzliche Spezialisten von der bäuerlichen Arbeit freigestellt wurden. Sie waren meist handwerklich begabt oder konnten den Kontakt zur übersinnlichen Welt herstellen. Dadurch wurden die Dörfer größer und man könnte denken, dass sich schließlich einige wenige große Dörfer zu Städten entwickelten. Warum dieser Mythos falsch ist und wie sich diese Entwicklung bis auf das heutige Stadtleben auswirkt, hat einen spannenden Hintergrund.

Warum sich dieser Mythos nicht bewahrheitet, kann gleich vorweg genommen werden: Dörfer konnten nicht zu Städten werden, weil beide Lebensformen so unterschiedlich sind, dass ein allmählicher Übergang vom Dorf zur Stadt nicht vorstellbar ist.

Die wahrscheinlichste Theorie hängt stark mit der religiösen Verbundenheit der Bevölkerung zusammen.

Aus der Anfangszeit im „fruchtbaren Halbmond“ sind sehr aufwendig gebaute Kulturorte bekannt. Sie stellen religiöse Zentren dar, in denen sich einmal im Jahr Menschen aus sehr weiten Gebieten treffen um bestimmte Rituale durchzuführen. Diese Zeremonien dauern tage- und wochenlang, weshalb es notwendig ist, seine Lebensmittel aus dem eigenen Dorf mitzubringen. Weil das Einzugsgebiet für solche Orte so groß ist, treffen hier Nahrungsmittel aus unterschiedlichen Dörfern aufeinander, die sonst nie an einem anderen Ort zusammenkommen würden.

Aus solchen überregionalen Orten wurden im Laufe der Zeit zuerst periodische Märkte und dann Städte. Sie sind religiöse Zentren, in denen die wichtigsten Personen Priester sind, die Kulthandlungen durchführen und sozusagen die „Spezialisten“ sind. Es treffen sich verschiedene Menschen, die einander nicht persönlich kennen, aber durch die gemeinsame Religion miteinander verbunden sind- man ist offen für Fremde. Diese Orte sind das Zentrum für eine große Region, weshalb dort auch überregionale Kommunikation und Austausch stattfindet.

Schon früher besitzen Städte Charakteristika, die sich bis heute nicht verändert haben

1. Versorgung der Stadt durch umliegende Dörfer

Wenn ein Zentrum entsteht, dann setzt dies voraus, dass das Zentrum von den umliegenden Dörfern mit Lebensmitteln versorgt wird. Dank der fortschreitenden Ertragssteigerung in der Landwirtschaft ist dies möglich. Das Dorf gibt Teile ihrer Vorräte an die Stadt ab, weil dort das religiöse Heiligtum liegt, das mit Opfergaben versorgt wird. Außerdem könnte die Stadt, als befestigter Mauerring den Dörfern in der Umgebung militärische Sicherheit geben, was diese mit Lebensmittellieferungen honorieren.

2. Spezialisierung Handwerk

Ein Handwerker hat damals, so wie heute die Entscheidung zu treffen ob er als Generalist auf eine breite Weise geschickt sein oder als Spezialist effizienter und präziser nur mit einem Material arbeiten möchte. Es zeichnete sich die Entwicklung von Handerwerkern als Spezialisten ab, was aber vier Dinge voraussetzt:

  • Der spezialisierte Handwerker muss von der bäuerlichen Arbeit befreit sein

  • Er muss problemlos seine Rohmaterialien in größeren Mengen erhalten

  • Er muss genügen Abnehmer für seine spezialisierten Produkte finden

  • Kommunikations- und Transportstrukturen zwischen den Städten müssen funktionieren

Zusammengefasst muss sich auch jeder Handwerker heute darüber bewusst sein:  Der spezialisierte Handwerker benötigt das Land und die anderen Städte, denn ohne sie besitzt er keine Existenzgrundlage.

3. Spezialisierung Handel

Der Beruf Kaufmann entwickelt sich in der Stadt zum Spezialisten für den Handel. Da es keine Selbstversorgung in der Stadt gibt, werden Waren importiert und exportiert. Am Anfang werden Produkte aus der näheren Umgebung der Stadt getauscht oder gekauft und verkauft. So konnten Ungleichheiten wie beispielsweise Ernteschwankungen innerhalb einer Region ausgeglichen werden. Später weiten sich die Handelsbeziehungen aus, wodurch sehr unterschiedliche Produkte aus unterschiedlichen Regionen gehandelt werden. Auch dafür sind folgende Voraussetzungen Grundbedingung:

  • Der Kaufmann muss von der bäuerlichen Arbeit befreit sein

  • Es müssen ausreichend Waren für den Handel zur Verfügung stehen

  • Es müssen genügend kaufkräftige Abnehmer zur Verfügung stehen

  • Kommunikations- und Transportstrukturen müssen zwischen Städten und dem Dorf funktionieren

Auch der Kaufmann braucht also das Land und die anderen Städte, denn ohne sie besitzt er keine Existenzgrundlage.

Arbeitsteilung und Spezialisierung sind große Vorteile und bringen eine starke Erhöhung der Arbeitsproduktivität und somit ein Bevölkerungswachstum mit. Die Städte werden zu attraktiven Zentren von Wirtschaft und Kultur, deren Glanz weit in benachbarte Regionen hinein abstrahlt.

In den Folgejahren kristallisierte sich aber eine Trendumkehr, die der heutigen Stadt- Land Beziehung zu schaffen macht.

Gibt es in der Anfangszeit gemeinsame Interessen von Dorf- als Versorgung und Stadt- als religiöses Zentrum, militärischer Schutz- so wird dieses Verhältnis immer einseitiger, je größer die Städte werden und je mehr Lebensmittel sie benötigen. Die Stadt ist militärisch stark und das Land sehr verletzbar. Den Städten fällt es dadurch leicht das Land militärisch zu beherrschen und die Bauern zur Abgabe von Lebensmittel zu zwingen. Diese unwegsame Entwicklung steckt den einzelnen Bevölkerungsgruppen bis heute noch tief in den Knochen und erklärt teilweise, warum die Diskussionen zwischen Stadt und Land so emotional geführt werden.

Nichtsdestotrotz gibt es einen einfachen Grundsatz, der vor Jahrhunderten galt und auch heute noch gilt. Die Stadt braucht das Land und umgekehrt.

Die Inhalte wurden von Prof. Dr. Werner Bätzing in seinem Buch " Das Landleben" erarbeitet.