Für viele ist der Alltag in einem Dorf abseits der großen Städte beschwerlich. Einerseits weil Mobilitätslösungen fehlen, andererseits weil die Infrastruktur oft viel geringer ausgebaut ist, als in den Städten. Doch genau das ist es, was ruhesuchende Städter zum Urlauben anzieht. Viele Modellprojekte zeigen, dass aus diesen ursprünglichen Urlaubern oft langfristige Dorfbewohner werden

Probewohnen am Land

2017 hatte ein YouTuber ein Kurzvideo hochgeladen, unterlegt mit dem Kommentar: Ganz nahe bei Mailand gebe es einen Schweizer Fluss, »so schön wie die Malediven«. Seither belagern selfiewütige italienische Tagestouristen die Brücke in Verzasca und tummeln sich in den Pozzi, den natürlichen Badebecken. Schilder warnen vor der starken Strömung im eiskalten Wasser – jedes Jahr ertrinken hier mehrere Menschen.

Während sich jedoch im Verzascatal ein gewisses vertourism-Spektakel entwickelt, steht die Zeit nur wenige Kilometer weit entfernt im oberen Tal im Dorf Corippo still. Aktueller Stand: zehn Einwohner. Das Dorfbild ist von alten Menschen, Gemüsegärten und aus grob gehauenem Granit gebauten Häusern geprägt.

Verein sollte Landflucht entgegen wirken

Die Urpsrungsidee war es Einwohner anzulocken, die in vermieteten Häusern ganzjährig wohnen sollten. Aber niemand hatte Lust auf ein so bescherliches Leben. Einheimisch erzählen von einem Sprichwort: "Die Hühner legen ihre Eier in ein Säckchen, denn sonst würden sie ins Tal rollen, so steil ist es überall." Und so verschwanden auch die Pläne für ein Feriendorf wieder in der Schublade.

Corippo schrumpfte weiter. 2020 ging die einst kleinste autonome Gemeinde der Schweiz in der neu geschaffenen Gemeinde Verzasca auf, die sieben Dörfer des Tales mit rund 900 Einwohnern vereint. Der frühere Bürgermeister, der noch in dem Weiler wohnt, arbeitet jetzt wieder als Holzfäller.

Neuer Plan

Es wurde ein Auftrag vergeben, ein Konzept für einen "nachhaltigen Nischentourismus" auszuarbeiten. Als Vorbild nahmen sich die Planer dabei das benachbarte Norditalien, wo nach dem verheerenden Erdbeben von 1976 ganze Dörfer verwaist waren. Um diese wiederzubeleben, waren dort nach und nach sogenannte "Albergi diffusi" entstanden.

Damit war klar, dass das Dorf Carippo das erste Pilotprojekt werden soll, dass de, Konzept der "Albergi diffusi" folgt. Ganz konkret bedeutet das, dass von den zehn Wohnhäusern im alten Kern, zwei als Erstwohnsitze instandegesetzt und vermietet werden. In den anderen acht Häusern entstehen Hotelzimmer. Die Osteria, die wiedereröffnet wurde, soll für die über den ganzen Ort verstreute Herberge als Rezeption und gemeinsamer Speisesaal fungieren. Dort wird zum Frühstück frisch gebackenes Brot serviert, dessen Mehl aus der restaurierten Mühle unten am Bach stammt.

Schmecken lassen es sich Wanderer und Wanderinnen, die sich danach ins nur zu Fuß erreichbare Dorf Mergoscia aufmachen. Nach der Tour entspannen sie in einem zum Jacuzzi umfunktionierten Holzfass und genießen Kastanien aus dem Rösthäuschen des Dorfes. Sie bleiben nicht nur zwei Nächte, sondern mindestens zwei Wochen und haben ein echtes Interesse daran, einmal in einer vollkommen anderen Umgebung und eingebettet in das Dorf mit dessen Einwohnern zu leben – so zumindest der Plan.

Tatsächlich scheint die Revitalisierung des pittoresken Dorfes eine Operation am offenen Herzen zu sein – Ausgang ungewiss.