Neues Wohnen am Land – in aktiver Gemeinschaft
Der Traum vom Leben am Land
Gerade in Umbruchphasen überdenken viele Menschen ihr Lebensumfeld und damit auch die Wohnsituation. Wenn Kinder geplant sind, eine berufliche Veränderung ansteht oder sich die finanzielle Lage ändert, heißt es dann immer öfter: „Ziehen wir ins Grüne“, „Raus aufs Land“ oder – wenn man dort schon wohnt – „Schaffen wir uns was für die Zukunft“. Den Traum vom freistehenden Einfamilienhaus träumen aber längst nicht mehr alle - Wohnformen und -wünsche haben sich gewandelt und sind heterogener geworden. Dabei rückt das Bedürfnis nach mehr Gestaltungsfreiräumen, Naturnähe, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft immer stärker in den Mittelpunkt – Qualitäten, die viele mit dem Landleben verbinden.
Gemeinschaftliches Wohnen
Am Land war das Zusammenleben und -arbeiten mehrerer Generationen unter einem Dach noch bis vor wenigen Jahren Gang und Gäbe, auch wenn der Trend zum Einfamilienwohnhaus diese Strukturen immer mehr auflöst. In der Stadt hingegen bildeten sich schon früh Wohngemeinschaften, Nachbarschaften und Wahlfamilien, da die Nähe zu den Ursprungsfamilien oft fehlte. Daher überrascht es nicht, dass es vor allem Städter sind, die sich in der Stadt und am Land in einer wachsenden Zahl an Baugruppen zusammenschließen.
Dabei haben viele gemeinschaftliche Wohnprojekte auch eine ideelle Ausrichtung oder verfolgen bestimmte Ziele und Themen, die sich auch in den Motivationen der beteiligten Menschen wiederspiegeln:
· So sind für viele Projekte Freiraum, Gestaltungspotenzial und Selbstverwirklichung zentrale Faktoren: Schließt man sich zusammen, kann gemeinschaftlich und in der Summe günstiger mehr Platz genutzt werden – vor allem auch, um Bedürfnissen abseits des Wohnens Raum zu geben, wünscht man sich etwa einen großen Garten, eine Werkstatt oder Platz für ein Gewerbe. Viele Projekte zielen auf die bewusste Durchmischung von Wohnen, Arbeiten, Werkstätten und Landwirtschaft. Vor allem das digitale Arbeiten wird immer häufiger integriert, zum Beispiel durch Coworking Spaces, die nicht selten auch öffentlich zugänglich sind. Dabei spielt auch gut durchdachte Architektur oft eine wichtige Rolle.
· Nicht wenige Gemeinschaften setzen auf das Miteinander von Jung und Alt. In manchen Mehrgenerationen-Wohnprojekten können etwa die Wohneinheiten innerhalb der Gemeinschaft getauscht werden, wenn sich Wohnbedürfnisse im Laufe des Lebens verändern. Trotz Umzug bleibt so die Gemeinschaft erhalten. Eine andere Ausprägung sind Projekte, in denen Menschen gemeinsam alt werden, wenn die eigenen Kinder und Enkel weiter weg leben.
· Eine weitere Form gemeinschaftlichen Wohnens, die es am Land schon länger gibt und die zurzeit eine Renaissance erlebt, sind ökologisch ausgerichtete Wohnprojekte, die das Leben auf dem Hof mit ökologischer Landwirtschaft und nachhaltigen Lebensprinzipien verbinden. Früher wurde in solchen Projekten meist großer Wert auf die bewusste Auswahl der Mitglieder gelegt und alternative Wohn- und Lebensformen erprobt. In neueren Projekten ist der Zugang meist pragmatischer: Es geht vor allem darum, große Gutshöfe gemeinsam zu bewirtschaften, ökologische Lebensmittel zu produzieren, Streuobstwiesen anzulegen, Hofläden zu betreiben und Ähnliches.
Neubau & Frisches Leben in alten Gemäuern
Die neuen und alternativen Wohnformen brauchen Raum. Auch wenn einige Baugruppen neu bauen, suchen die meisten besondere Immobilien in Form von leerstehenden Bestandsimmobilien, die einen gewissen Charme mit sich bringen sollen. Für viele ländliche Gemeinden eine gute Nachricht - interessieren sich die Baugruppen doch oft für lange leerstehende Gebäude, für die ohnehin eine Mischnutzung von Wohnen und Gewerbe vorgesehen ist. Dabei spielen Charakter und Flair von Lage und Aussicht und bestehenden Bauten eine große Rolle, aber auch die Finanzierbarkeit der Umnutzung, gerade wenn saniert werden muss. Der Zusammenschluss vieler Wohnparteien ist hier von Vorteil: Gemeinsam ist’s günstiger. Auch ein großer ehemals landwirtschaftlich genutzter Hof oder ein ehemaliges Fabriksgelände lassen sich so umbauen und sanieren. Meist wird dabei viel Wert auf bewusste Planung und durchdachte Architektur gelegt, so wird beispielsweise die traditionelle, regionale Baukultur aufgegriffen und neu interpretiert, um die neuen Bedürfnisse zu erfüllen. Selbst für reine Einfamilienhaus-Gebiete gibt es bereits gute Konzepte, wie diese nachverdichtet werden können, um bspw. gemeinschaftliches und solidarisches Wohnen im Alter zu ermöglichen. Die neuen Dorfbewohner bringen damit oft frisches Leben in sonst kaum vermittelbare Immobilien und unattraktive Ortslagen.
Die Gestaltungsmöglichkeiten solcher Wohnprojekte sind vielfältig. Die Formen und Ausprägungen scheinen manchmal eine Art Gegenentwurf zum gewohnten, traditionellen Dorfleben zu sein. Doch im Kern geht es letztlich um Gemeinschaft, Nachbarschaft und gegenseitige Unterstützung – die Grundpfeiler des Landlebens, gestern, heute und in der Zukunft.
Neue Landbewohner – Neues Arbeiten
Die neuen Landbewohner arbeiten nicht selten in Wissens- und Kreativberufen. Durch die neuen, flexiblen Formen des Arbeitens können sie einen Großteil ihrer Arbeit von überall her erledigen – also auch am heimischen Computer auf dem Land. Neben jenen, die örtlich flexibel arbeiten können, sind unter den Projektteilnehmern aber auch solche mit ortsgebundenen Berufen, wie Lehrer und Sozialpädagogen, Ärzte oder Handwerker, die sich oft, wenn möglich, vor Ort eine neue Stelle suchen. Denn im Unterschied zu vielen klassischen Umlandwanderern, bei denen Pendeln als notwendiges Übel zum Alltag gehört, möchten viele der neuen Landbewohner lieber auf die tägliche Fahrerei verzichten. So gehen einige mit ihrem Umzug aufs Land auch beruflich neue Wege und erfüllen sich im Gemeinschaftsprojekt den Traum von der eigenen Praxis oder Werkstatt – andere machen sich mit einer neuen Geschäftsidee selbständig und gründen, oft im Kontext des Projekts, ein eigenes Unternehmen.
Verbindungen, Lebensqualität und aktive Teilhabe
Viele der Menschen, die in gemeinschaftlichen Wohnprojekten am Land wohnen, wollen aber nicht nur im idyllischen Grün leben, sondern ihr Umfeld auch aktiv mitgestalten. Manche öffnen ihre projekteigenen Coworking-Spaces oder Werkstätten für die Dorfgemeinschaft, andere stellen ihre Gemeinschaftsküchen auch Gästen zur Verfügung und manchmal wird von Beginn an ein Café oder ein kleines Gasthaus mitgeplant. Das gemeinsame Anbauen von Gemüse, Einkaufsgemeinschaften (z.B. Foodcoops) oder auch das Teilen von Autos spielen in vielen Projekten eine große Rolle. Und nicht nur dabei ist die größere Anzahl an Bewohnern von Vorteil. Auch Kinderbetreuung oder Kulturevents lassen sich gemeinschaftlich viel leichter organisieren und finanzieren als allein. Die Ideen wirken oft in die ganze Gemeinde und Region hinein. Damit setzen die Gemeinschaftswohnprojekte wichtige Impulse für die lokale Kultur, die dörfliche und regionale Entwicklung und bringen Schwung in lokale Strukturen.
Die Wiedergeburt des Dorfes
Das Phänomen der ländlichen Gemeinschaftswohnprojekte zeigt: Dörfer sollten nicht versuchen die Städte zu kopieren, sondern auf Basis ihrer Vorteile gegenüber der Stadt – mehr Platz und mehr Freiräume etwa – ein eigenes Profil entwickeln. Die neuen Stadt-Land-Wanderer mit ihren Ideen und Projekten sind lebende Beispiele dafür, wie das funktionieren kann. Orte, in denen die Menschen den Chancen der Digitalisierung offen gegenüberstehen, können von den neuen Formen ländlichen Wohnens und Arbeitens auch wirtschaftlich profitieren und sich im besten Fall eine günstigere demografische Zukunft erschließen.
Gemeinden und Regionen sind daher gut beraten, die Motive, Bedürfnisse und Fähigkeiten der neuen Landbewohner besser kennenzulernen – um dann gezielte Unterstützung für derartige Projekte zu leisten. So können sie eine Vermittlerrolle einnehmen und Leerstände, Baugründe und Brachflächen mit interessierten Baugruppen verbinden. Denn funktionieren kann die Wiedergeburt des ländlichen Raums als Dorf 4.0 nur, wenn sich Menschen finden, die dort etwas bewegen wollen. Sie sind das wichtigste Kapital des neuen ländlichen Raums.
Konkrete Projekte
· B.R.O.T Pressbaum (https://www.brot-pressbaum.at/) ist ein gemeinschaftliches Wohnprojekt (59 Erwachsene und 49 Kinder) in NÖ, das aus 10 Wohngebäuden und einem Gemeinschaftshaus besteht.
· WoGen Bauträgerin – Wohnprojekte. Eine Genossenschaft, die ausschließlich gemeinschaftliche Wohnprojekte mit und für Menschen verwirklicht. https://diewogen.at/die-wogen/
· Das Uferwerk ist ein generationsübergreifendes Gemeinschaftsprojekt im brandenburgischen Werder/Havel, das nachbarschaftliche Wohnformen mit ökologischen und energieeffizienten Bauweisen verbindet. https://uferwerk.org/
Plattformen und Netzwerke
· Die Plattform Perspektive Landwirtschaft, bringt (Bauern-)Hof-Suchende mit Anbietern zusammen und begleitet den Weg der Hofübergabe: https://neu.perspektive-landwirtschaft.at/
· Ein Beispiel für Nachverdichtung im Ortskern: Trofaiach (Steiermark) - „Architektonische Konzepte für ein zukünftiges Miteinander“ (TU Graz) https://www.tugraz-verlag.at/gesamtverzeichnis/architektur/trofaiach/ (PDF-Download – kostenlos)
· habiTAT – Österreichischer Zusammenschluss (angelehnt an das deutsche Mietshäuser-Syndikat https://www.syndikat.org/de/) für gemeinschaftliche und selbstorganisierte Wohnprojekte im Syndikatsmodell: https://habitat.servus.at/
· Auf Basis christlich-sozialer Werte vereint der Verband B.R.O.T. seine Wohnprojekte und beschäftigt sich mit dem Gelingen des umweltschonenden Miteinander-Wohnens. https://brot-verband.at/
· Die Initiative Gemeinsam Bauen & Wohnen (https://www.inigbw.org/) vertritt die Interessen gemeinschaftlicher Wohnprojekte, fördert Bewusstseinsbildung und sieht sich als Vernetzungsort für Interessierte am gemeinschaftlichen Wohnen.
· Der Verein kolokation hat es sich zum Ziel gesetzt, das Zusammenleben von Jung und Alt zu fördern und ein nachbarschaftliches Miteinander in unserer Gesellschaft zu stärken. Zwei Gemeinschaftswohnprojekte sind bereits umgesetzt. https://kolokation.net/
· Das Pilotprojekt mit dem Land Salzburg beschäftigt sich mit dem “Neuen Wohnen 70plus” - Wohnberatung für die Babyboomer-Generation. https://www.neueswohnen70plus.at/
· “Von Häusern und Menschen”: Architektonische und Planerische Lösungen für ein gutes Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach (Standard Artikel): https://www.derstandard.at/story/2000123872018/und-wenn-wir-doch-zurueck-aufs-land-ziehen
· Die Munus Stiftung stärkt den Boden für gutes Leben und vernetzt Engagierte: https://munus-stiftung.org/
· LandLuft Sonderpreis für außergewöhnliches Engagement um das Thema „Boden g’scheit nutzen“: https://www.baukulturgemeinde-preis.at/sonderpreis-2021 (PDF mit Nominierten: https://www.baukulturgemeinde-preis.at/files/BKG/img/logo_1/Nominierungen%20LL%20Sonderpreis%202021.pdf)
· Das Netzwerk Zukunftsräume vernetzt kreativer Wohn- und Arbeitsprojekte, die Leerstand im ländlichen Ostdeutschland umnutzen und reaktivieren – sowohl lokal und untereinander als auch mit überregionalen Institutionen und Initiativen – und organisiert Wissensaustausch und Unterstützung für die Akteure: https://zukunftsorte.land/